PRESSEMITTEILUNG
12.11.2020
Reaktion auf ARTE-Wettbewerb: „Unbeschreiblich sexistisch“
675 Unterzeichner*innen des Offenen Briefes an ARTE bzgl. des Kurzdokumentarfilmwettbewerbs „Regisseurin gesucht“ // Forderung nach Gleichstellung von Regisseurinnen* in der deutschen Film- und Fernsehbranche
Mit einem Offenen Brief an ARTE auf die Ausschreibung „Regisseurin gesucht“ kritisieren die Autorinnen und Regisseurinnen, Pary El-Qalqili und Biene Pilavci von der Initiative NichtmeinTatort, die fehlende Gleichstellung von Regisseurinnen* in der deutschen Film- und Fernsehbranche. Bei ARTE lag der Frauenanteil bei Regisseurinnen* im Jahr 2016 nur bei 19%.
Gemeinsam mit 675 Unterstützer*innen, darunter 27 Filmverbände, Vereine und Initiativen, fordern sie in einem Offenen Brief transparente Maßnahmen, um eine strukturelle Gleichberechtigung von Frauen* und eine gerechte Teilhabe von Regisseurinnen* zu erreichen.
In der Ausschreibung ruft ARTE Regisseurinnen ab 18 Jahren in Deutschland und Frankreich dazu auf, an einem Kurzdokumentarfilmwettbewerb zum Thema „Unbeschreiblich weiblich“ teilzunehmen. Die Kritik der Unterzeichnerinnen* richtet sich unter anderem gegen die diskriminierende Festlegung auf das Thema „Unbeschreiblich weiblich“, gegen die selektive Förderung von einer Wettbewerbsgewinnerin sowie gegen die exkludierenden Produktionsbedingungen, die der Aufruf zur unentgeltlichen Herstellung von Kurzdokumentarfilmen bedeutet.
Die detaillierte Kritik und Forderungen entnehmen Sie bitte dem Offenen Brief.
Die Fakten:
Mehr als 50% der Absolvent*innen der Filmhochschulen im Fach Regie sind Frauen*. Als Regisseurinnen* sind diese jedoch in den Bereichen Kinodokumentarfilm (mit 27%) und Kinospielfilm (mit 22%) stark unterrepräsentiert. Dabei fehlt es nicht nur an einer gerechten Teilhabe von Regisseurinnen*, sondern auch an einer Gendergleichstellung in Bezug auf Produktionsbudgets - Regisseurinnen* erhalten für ihre Filme noch immer weniger Fördermittel als ihre männlichen* Kollegen.
Mehrere Studien belegen die strukturelle Benachteiligung von Regisseurinnen* in der deutschen Film- und Fernsehbranche.
Die GenderDOK Studie der AG DOK und der Diversitätsbericht des BVR von 2018 belegen, dass 2017 nur 30% der Kinodokumentarfilme von Regisseurinnen* realisiert wurden.
Der Diversitätsbericht des BVR 2018 zeigt:
Statement der Initiatorinnen des Offenen Briefes:
“Ich verstehe diese Ausschreibung als Sinnbild für einen eklatanten Missstand in der deutschen Film- und Fernsehbranche und musste einfach reagieren. Neben der Forderung der 50/50 Quote möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um auch auf sämtliche Ungerechtigkeiten, wie die ausstehende Gleichberechtigung von Transfrauen*, non-binären Menschen und (postmigrantischen) Regisseurinnen* of Color aufmerksam zu machen. Kurz: Wenn ARTE als öffentlich-rechtlicher Sender sowohl seinen Bildungsauftrag und die Gleichberechtigung von Frauen* ernst nähme, bräuchte er keine diskriminierenden Wettbewerbe auszurufen.” Biene Pilavci, Autorin und Filmemacherin
“Wir sind im Jahr 2020 und haben immer noch mit strukturellem Ausschluss und Benachteiligung von Frauen* in der Politik, Wirtschaft und in der Film-und Fernsehbranche zu kämpfen. Als ich die Ausschreibung las, konnte ich es nicht fassen, dass wir als Regisseurinnen* dazu aufgerufen werden uns mit dem Thema ‘Unbeschreiblich weiblich’ auseinanderzusetzen. Wieso werden Regisseurinnen* hier in ihrem filmischen Schaffen von einem öffentlich-rechtlichen Sender auf ihr Geschlecht reduziert? Wenn ARTE tatsächlich etwas an der fehlenden Gleichstellung von Frauen* ändern möchte, dann muss eine 50/50 Quote umgesetzt werden. Nur mit klaren strukturellen Veränderungen, werden wir Regisseurinnen* in diesem Berufsstand gleiche Teilhabe erlangen. Von der Frage nach unzureichender Diversität vor und hinter der Kamera und struktureller Diskriminierung von Women of Color haben wir noch gar nicht angefangen zu sprechen.” Pary El-Qalqili, Autorin und Regisseurin
Statements der Unterstützer*innen:
“Mit der Ausschreibung betreibt ARTE lediglich purplewashing, um sich das positive Image von Frauenförderung auf die Fahne zu schreiben. Langfristig helfen solche halbherzigen „Förderprogramme“ keiner Regisseurin. Der Preis für die Gewinnerin sieht lediglich einen Entwicklungsauftrag vor. Der Sender ist mit dieser Ausschreibung weit davon entfernt, seinem Anspruch, mehr Dokumentarfilme von Frauen in der Primetime zu zeigen, gerecht zu werden.” Bundesverband Regie (BVR)
“Die Arte Redaktion schreibt, sie freuen sich auf ‘viele neue Talente’. Aber: Wir waren immer da! Wir als junge Filmemacher*innen sind präsent auf Festivals und Pitchings. Wir brauchen keine öffentlichkeitswirksame neue Ausschreibung, in der wir wieder auf unser „unbeschreiblich weibliches“ Geschlecht reduziert werden. Wir wollen, dass Arte endlich beginnt das Problem strukturell zu lösen.” #wirwarenimmerda
“Die Medien sind entscheidend für sowohl den Aufbau als auch die Verbreitung der Sichtweisen von Menschen mit Migrationsgeschichte und damit für die Sozialisierung einer diversen Gesellschaft. Storytelling beeinflusst, wie wir unser Leben sehen, wie wir andere Menschen sehen und wie wir über uns selbst denken. Die Repräsentation in den Massenmedien ist von Bedeutung, weil sie die Teilhabe an der Gesellschaft darstellt. Falsche oder keine Repräsentation von Minderheiten in den Medien verzerrt ihre Existenz in der Gesellschaft und ist somit eine subtile Gewalt gegen die Legitimität und Komplexität verschiedener Identitäten.” Maissa Lihedheb, Gründerin BIPoC Film Society
“Wir von INTO THE WILD unterstützen jeden Versuch, zum Beispiel in Form einer Ausschreibung, zur Gendergerechtigkeit in der Filmbranche beizutragen. Leider bleibt es allzuoft bei einem Versuch – und meistens geht dieser an unseren Lebensrealitäten vorbei. Wir haben einen Vorschlag wie eine Ausschreibung aussehen könnte:
Sender sucht Filmemacherinnen
Fakt ist, dass viel zu wenig Filme von Frauen und LBTQIA bipoc auf unserem Sender gezeigt werden. Ganz besonders gilt dies für die Primetime. Und das, obwohl so viele talentierte und engagierte Filmemacherinnen ihre Ausbildung an Journalismus- und Filmhochschulen abschließen. Warum nur zeichnet sich diese Realität bisher nicht auf den Bildschirmen ab? Wir haben geschlafen – jetzt sind wir aufgewacht:
Wir bieten euch einen regelmäßigen Sendeplatz in der Primetime an – für Filmemacherinnen* jeden Alters mit dem Thema "Ohne Thema". So verzichten wir bewusst darauf, Frauen auf ihren spezifisch weiblichen Blick zu reduzieren.
Wir werden ab jetzt darauf achten, dass wir sämtliches Programm in gleichem Maße von weiblichen wie von männlichen Drehbuchautor*innen, Regisseuren*innen und Verantwortlichen in allen Gewerken gestalten lassen. Dies ist unsere Verantwortung und unsere Verpflichtung als öffentlich-rechtlicher Sender.
Sendet uns Eure Filme – wir wissen, dass Ihr da seid!” INTOTHEWILD #unbeschreiblichda #wosindsiedenn
“ARTE fragt ‘Warum nur zeichnet sich diese Realität (dass es viele weibliche Filmemacherinnen gibt) bisher nicht auf den Bildschirmen ab?’ Das ist ein wenig so, als ob Trump fragen würde, warum die USA nicht mehr im Pariser Klimaabkommen sind. „Diese Ausschreibung ist eine einzige Ablenkung von der Eigenverantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der (selbst)kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, warum das öffentlich finanzierte System Frauen* weder einen angemessenen Anteil an Sendeplätzen, noch an Aufträgen zukommen lässt. Hier wurde trotz eifriger Lippenbekenntnisse in den letzten Jahren nur wenig verändert.” CREW UNITED